Jung, dynamisch, digitalisiert – willkommen in Estland
Ein Land mit großem Herz für Bildung, Internationalität, Individualität, Naturverbundenheit und selbstverständlich Saunen. Das alles natürlich mit flächendeckender 4G Internetverbindung!
Sieben KollegInnen aus Mittelschule und Förderzentrum hospitieren an einer estnischen Schule. Dank Erasmus+ und der intensiven Vorbereitung einer Kollegin hatten wir – sieben Lehrkräfte aus der Mittelschule am Gerhart-Hauptmann-Ring und dem sonderpädagogischen Förderzentrum Süd- Ost Neuperlach – die großartige Möglichkeit im Mai 2022 eine Schule in Estland zu besuchen.
Vier Vormittage hospitierten wir an der „Ristiku Põhikool“ in Tallinn in unterschiedlichen Klassenstufen und Fächern. Die „Ristiku Põhikool“ ist eine allgemeinbildende Schule, die eine Grundausbildung auf der Grundlage des nationalen Lehrplans anbietet und SchülerInnen aus der Stadt Tallinn aufnimmt (vgl. STADT TALLINN 2022a). Zusätzlich zum regulären Unterricht (1.-9. Klasse) bietet die Schule Förder- und Sonderförderklassen (vgl. ebd.). Die Klassenstärke beträgt je nach Klassentyp vier, 12 oder bis zu 20 Kinder und Jugendliche. Es besteht eine hohe Durchlässigkeit zwischen den Klassentypen und für jedes Kind wird regelmäßig der passende Förderort bzw. der passende Klassentyp evaluiert. Zum Schulpersonal zählen neben den regulären Lehrkräften auch LogopädInnen, SozialpädagogInnen, PsychologInnen, Kunst-TherapeutInnen, FreizeitmangerInnen (ausschließlich zuständig für die Koordination von Ausflügen und Projekten) sowie KoordinatorInnen für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf.
Innerhalb unserer Hospitationen sahen wir neben klassischem Frontalunterricht auch einige neue Methoden insbesondere für den Einbezug von Bewegung in das Unterrichtgeschehen. Wir waren überrascht, dass Tablets und Laptops zwar teilweise im Unterricht Verwendung finden aber bei weitem nicht in dem von uns erwartetem Ausmaß. Spannend zu sehen waren die erstaunlich guten Englischkenntnisse bei einem Großteil der Kinder. Bereits ErstklässlerInnen konnten sich flüssig mit uns unterhalten. Der Englischunterricht beginnt oft schon im Kindergarten und nichtsynchronisierte englischsprachige Fernsehsendungen fördern das Erlernen der Sprache erheblich. Als eins der Highlights bleibt uns eine Einführung in den Robotik Kurs in Erinnerung. Hier lernen die SchülerInnen von klein auf das Programmieren von kleinen Robotern.
Wie viele andere Schulen in Tallinn verfügt auch die „Ristiku Põhikool“ über ein elektronisches Klassenbuch zur digitalen Verwaltung und Kommunikation. Lehrkräfte, Eltern und auch SchülerInnen erhalten Einsicht über Einträge zum Verhalten, Schulleistungen, Mitteilungen oder Unterrichtsmaterial. Der Staat stellt den Eltern das erforderliche Programm kostenlos zur Verfügung. Die Kommunikation zwischen Elternhaus und Schule scheint dadurch erleichtert zu werden. Uns stellte sich natürlich gleich die Frage nach dem entsprechenden Datenschutz.
Unter anderem beim sehr liebevoll zubereiteten Mittagessen, blieb uns viel Zeit für einen offenen und gewinnbringenden Austausch mit den KollegInnen vor Ort über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Bildungssysteme.
Was nehmen wir uns mit?
Im Allgemeinen:
- Erasmus+ bietet eine spannende Möglichkeit für professionellen Austausch, Inspirationen und Innovationen für die eigene Schulpraxis, Reflexion und Neubewertung gängiger Klischees und das Erleben anderer Kulturen.
Im Speziellen:
- In Estland scheint der unbürokratische Einsatz von digitalen Medien und das Vorhandensein eines flächendeckenden Internetzugangs als Selbstverständlichkeit. Bzw. garantiert in Estland der Staat seit 2000 per Gesetz seinen BürgerInnen einen Zugriff auf das Internet (vgl. LANGER 2015, S. 7).
- Kinder und Jugendliche mit diagnostiziertem sonderpädagogischem Förderbedarf werden mit der Zustimmung bzw. auf Antrag eines Erziehungsberechtigten durch eine Beratungskommission dem passenden Förderort zugewiesen; es gibt drei staatliche Lehrpläne, darunter einen vereinfachten und einen Mindestlehrplan (vgl. STADT TALLINN 2022b).
- Eine Diagnostik findet ausschließlich durch PsychologInnen und ÄrztInnen statt. SonderpädagogInnen sind dazu nicht befähigt. Die Ausbildung zur Lehrkraft in der Sonderpädagogik schein in Deutschland einen stärkeren Fokus auf methodische und didaktische Kompetenzen zu legen. Auch gibt es in Estland kein Referendariat als begleiteten Übergang von der Universität zur Schule.
Zeitungsbericht_estnische Zeitung_2022_06
Was ist Erasmus+?
- Das EU Programm Erasmus+ fördert seit 2014 „persönliche Begegnungen, digitalen Austausch und gemeinsame Projekte für Schulen, Kitas und andere Einrichtungen der Schulbildung“ (DEUTSCHE NATIONALE AGENTUREN IM EU-BILDUNGSPROGRAMM ERASMUS+ o.J.)
- „Erasmus+ stärkt und fördert:
- die europäische Dimension des Lehrens und Lernens
- Werte wie Integration und Vielfalt, Toleranz und demokratische Teilhabe
- digitales Lernen
- ökologische Nachhaltigkeit und umweltfreundliches Verhalten
- das Wissen über das gemeinsame europäische Erbe und die Vielfalt
- die Entwicklung professioneller Netzwerke in ganz Europa“ (ebd.).
Wer kann wie teilnehmen?
Jede Schule kann einen Antrag stellen. Eine Anleitung für die Antragstellung ist verfügbar unter:
https://erasmusplus.schule/foerderung/eine-akkreditierung-beantragen
Notwendig ist eine umfassende Vorstellung und Begründung des Vorhabens. Wir freuen uns sehr, die Kooperation mit unseren estnischen KollegInnen auch im nächsten Schuljahr 2022/23 fortsetzen zu können.
Quellen:
DEUTSCHE NATIONALE AGENTUREN IM EU-BILDUNGSPROGRAMM ERASMUS+ (HRSG.): Schulbildung. O.J. https://www.erasmusplus.de/erasmus/schulbildung – Letzter Zugriff: 08.08.2022
MARIE-ASTRID LANGER: Zu Besuch in der Zukunft. Firmen- und Regierungsvertreter aus aller Welt wollen von Estland lernen, wie der digitale Wandel ein Land verändern kann. In: Neue Zürcher Zeitung, 27. Februar 2015, internationale Ausgabe, S. 7.
STADT TALLINN (HRSG.): Koolist. 2022a. https://www.tallinn.ee/et/ristiku/koolist – Letzter Zugriff: 08.08.2022
STADT TALLINN (HRSG.): Special education in schools for pupils with special needs. 2022b. https://www.tallinn.ee/en/haridus/special-education-schools-pupils-special-needs – Letzter Zugriff: 09.08.2022