Malins Weihnachtsgeschenk
Die Schule war in einem kleinen roten Haus. In diese Schule ging Malin. Sie war neun
Jahre alt. Am zweiten Juli hatte sie Geburtstag. Mitten im Sommer.
Malin hatte ein Geheimnis. Aber das erzählte sie niemandem.
Ja, eine Weile hatte sie sogar zwei Geheimnisse. Das eine hätte sie fast Johan erzählt. Das
war, als das erste Schuljahr vorbei war. Alle in der Klasse hatten ihre Sonntagskleider an.
Die Lehrerin trug ein Kleid mit Blumen drauf. In einer Vase steckte ein großer Strauß
Flieder. Der duftete durch das ganze Schulzimmer.
Malin hätte fast geweint. Der Sommer war so lang. Es würde lange dauern, ehe die Schule
wieder anfing. Sie musste einfach nach vorn gehen und die Lehrerin ganz fest umarmen.
Dann gingen sie zur Kirche. Dort spielte Anderson auf der Orgel. Malin wusste, dass es
Anderson war. Obwohl sie ihn nicht sehen konnte.
Und er spielte so, dass die ganze Kirche voll Musik war. So etwas Wunderbares hatte Malin
noch nie gehört. Die Sonne leuchtete durch die Fenster der Kirche und mitten hinein in die
Musik, die aus der Orgel floss. Malin wurde fast krank. Die hellen Härchen auf den Armen
D
richteten sich auf. Sie kriegte eine Gänsehaut. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie fror und
konnte fast nicht atmen.
»Hast du schon mal so was Wunderbares erlebt?«, fragte Malin Johan, als sie die Kirche
verließen.
»Weil wir Sommerferien haben? Ja, das ist wunderbar«, sagte Johan und fing an, auf der
Stelle zu hüpfen.
»Nein, die Musik«, sagte Malin.
»Welche Musik?«, fragte Johan.
Da begriff Malin, dass Johan nicht dasselbe gefühlt hatte wie sie.
Den ganzen Sommer suchte Malin nach ihrer Musik. Manchmal kam ein bisschen im
Fernsehen. Manchmal hörte sie ein bisschen im Radio. Nisse, der fünf Jahre älter war,
hatte ein Tonbandgerät. Aber er mochte nur die Musik, die die anderen mochten. Wonach
Malin sich sehnte, das war etwas ganz anderes.
Aber das sagte sie niemandem. Es blieb ein Geheimnis. Ein bisschen komisch war das. Sie
mochte Musik, die sonst niemand mochte. Aber daran war wohl nichts zu ändern.
Die Sommerferien waren jedenfalls gar nicht so lang. Plötzlich fing die Schule wieder an.
Die Lehrerin war braun gebrannt und trug ein gelbes Kleid. Sie war sehr hübsch.
Dann wurde es Herbst und Weihnachten und Winter und Frühling.
Malin wurde unruhig, als das Ende des Schuljahres kam. Sie war unruhig, als sie in die
Kirche ging, und sie war unruhig, bis Anderson anfing zu spielen. Da wurde sie ganz ruhig.
Es war genauso wunderbar wie im letzten Jahr.
Malin fand, dass die Musik ihr durch und durch ging. Als ob sie selbst zu Musik würde. Der
ganze Körper und der ganze Kopf waren voller Musik.
In dem Sommer starb die alte Frau Bergman, die im Haus nebenan wohnte. Neue
Nachbarn zogen ein. Sie hießen Jönsson und hatten keine Kinder. Aber sie hatten ein
Klavier.
Und gleich am ersten Abend spielte Frau Jönsson auf dem Klavier. Malin setzte sich auf
den Rasen. Aus dem offenen Fenster kam die richtige Musik. Solche Musik wie in der
Kirche. Obwohl es ein Klavier und keine Orgel war.
Malin stand auf, ging langsam durch das Gartentor, um die Hausecke und in das Haus von
der alten Frau Bergman. Da saß Frau Jönsson und spielte. Obwohl die Kisten und Möbel
noch in einem einzigen Durcheinander herumstanden.
Und sie hörte auch nicht auf zu spielen, obwohl Malin ins Zimmer kam. Sie lächelte nur
und spielte und spielte. Während Herr Jönsson Bilder und Gardinen aufhängte.
»Du magst Musik wohl sehr«, sagte Herr Jönsson.
»Jaa«, flüsterte Malin. »Aber nur diese Musik.«
»Das ist Mozart«, sagte Frau Jönsson und drehte sich um. »Spielst du auch?« Malin
schüttelte den Kopf.
»Komm«, sagte Frau Jönsson und setzte Malin auf den Stuhl. »Jetzt spielst du.«
Malin sah sie an. Aber Frau Jönsson machte keinen Spaß.
Malin schlug eine weiße Taste an und dann eine schwarze. Und mehr schwarze und mehr
weiße, bis das ganze Zimmer voller Töne war. Nein, das klang nicht wie in der Kirche. Oder
wie Frau Jönssons Musik. Aber es klang.
In diesem Herbst lernte Malin Variationen über »Morgen kommt der Weihnachtsmann«
auf dem Klavier spielen. Frau Jönsson brachte es ihr bei. Und das war das zweite
Geheimnis. Bis Weihnachten.
Malin übte und übte und übte. Und als Weihnachten kam, konnte sie es. So leicht wie nur
was.
Heiligabend, als Mama und Papa und Großvater und Nisse und Malin gerade zu Mittag
gegessen hatten, klingelte Frau Jönsson an der Tür.
»Malin hat ein Weihnachtsgeschenk für Sie. Ein Geheimnis. Das will sie Ihnen bei uns
zeigen. Können Sie nicht alle miteinander zum Kaffee herüberkommen?«
Mama und Papa verstanden nichts. Nisse kam nicht mit. Aber die anderen gingen zu
Jönssons. Und da setzte Malin sich ans Klavier und spielte. Langsam und weich und
vorsichtig. Aber ganz richtig.
»Ja, was ist das denn?«, sagte Mama.
»Wir haben den ganzen Herbst geübt. Malin kann mehrere kleine Stücke von Mozart«,
sagte Frau Jönsson.
»Aber warum sollte sie spielen?«, sagte Papa. »Wir haben ein Tonbandgerät und ein
Transistorgerät und Radio und Fernsehen und
Schallplatten.«
»Aber das ist nicht meine Musik«, sagte Malin langsam. »Und diese Musik hab‘ ich
gemacht. Nach diesen Noten.«
»Du hast einen komischen Geschmack«, sagte Großvater.
»Das ist doch weder Pop noch Rockmusik oder ABBA.«
Aber Malin wurde weder böse noch unsicher oder traurig. Frau Jönsson, die Anna hieß,
mochte Mozart. Dann konnte Malin ihn auch mögen. Sie war nicht allein mit ihrem
Geschmack, nicht mehr.
Obwohl Mama und Papa und Großvater sie ansahen und den Kopf schüttelten. Dann
spielte sie noch ein Stück von Mozart.
Aber in der Schule erzählte sie niemandem von ihrer Musik. Das blieb ein Geheimnis.
Niemand in der Schule sollte es wissen.
Erst viele Jahre später, als sie mit der Schule fertig waren. Es gab eine große
Abschlussfeier. Da saß Malin vorn am Klavier und spielte ein langes Stück von Mozart.
Mama und Papa saßen dabei und nickten und waren sehr stolz.
Aber richtig haben sie Malins Geheimnis wohl nie verstanden. Oder wie man so voll von
Musik sein kann, dass der Körper zittert und die Härchen sich auf den Armen aufrichten.