Lisa und ihr Tannenbaum
Renate Welsh
m Sommer hat Lisa ihn entdeckt: den schönsten Tannenbaum weit und breit. Mitten
auf einer Lichtung steht er, ganz allein, hat Äste und Zweige bis zum Boden. Wenn Lisa
auf den Zehenspitzen steht, kann sie seinen Wipfel anfassen. Die Nadeln an den Spitzen
der Zweige sind hellgrün und weich. Lisa streichelt sie.
Sie stellt sich vor den Tannenbaum und singt: »O Tannenbaum, o Tannenbaum!«
Weihnachtslieder singt sie am liebsten im Sommer. »Das wird unser Christbaum«, sagt sie.
Die Eltern erklären: »Man darf Bäume nicht einfach abschlagen.«
»Warum?«, fragt Lisa.
»Weil sie jemandem gehören«, sagt der Vater.
Lisa will wissen, ob dieser Jemand die Bäume gepflanzt hat.
»Manche«, sagt der Vater. »Manche hat der Wind gesät oder die Vögel…«
Lisa denkt nach: »Dieser ist ein Wind- und Vogelbaum, der gehört dem Wind und den
Vögeln.«
»Und die verkaufen ihn nicht«, sagt die Mutter.
»Aber ich will nur den«, sagt Lisa.
Immer wieder geht Lisa ihren Baum besuchen. Einmal hängt ein Spinnennetz in den
Zweigen, darin funkeln ein paar Regentropfen. Lisa bringt eine Glaskugel mit und hängt sie
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an einen Zweig. Wie schön wird der Baum erst sein mit vielen Glaskugeln, mit Lebkuchen
und Schokoladenherzen, mit Kerzen und Sternspuckern!
Es wird Herbst. Das Gras auf der Lichtung ist gelb und braun. Die Birken am Waldrand
haben nur noch fünf Blätter. Auf der Spitze des Tannenbaums hängt ein goldenes
Birkenblatt. »Bald ist es so weit«, sagt Lisa.
Der Vater holt die Glaskugeln vom Schrank. Die Mutter bastelt Strohsterne und Lisa malt
ihrem Nussschalenkind einen roten Mund. Der Vater putzt die Glaskugeln, aus der
Schachtel fallen vertrocknete Tannennadeln. Plötzlich erinnert sich Lisa an den
Dreikönigstag im letzten Jahr. Sie erinnert sich, wie sie den Christbaum abgeräumt haben.
Fast alle Nadeln sind heruntergefallen. Übrig blieben ein trauriger kahler Stamm und
traurige kahle Äste und ein trauriges Häufchen grauer Nadeln auf dem Fußboden.
»Morgen holen wir deinen Tannenbaum!«, sagt der Vater. »Ich habe mit dem Förster
gesprochen.« Lisa schüttelt den Kopf. Die Mutter sieht den Vater an. »Warum denn
nicht?«, fragen beide. Lisa beginnt zu weinen. Die Mutter streicht ihr über den Kopf. Der
Vater hebt sie auf seinen Schoß. Lisa schluchzt in seinen Pullover hinein. Plötzlich sagt die
Mutter: »Ich habe eine Idee.«
Am Weihnachtsabend kommen die Großeltern, Tante Carola und Onkel Michael. »Nicht
ausziehen«, sagt Lisa. »Warum nicht?«, fragt Oma. Lisa macht ein geheimnisvolles Gesicht.
Die Mutter reicht allen Gummistiefel. Oma bekommt noch ein dickes warmes Tuch. Sie
steigen ins Auto. Es ist eng im Wagen mit so vielen Menschen drin, eng und schön warm.
Der Großvater will wissen, wohin sie fahren, aber die Eltern und auch Lisa verraten nichts.
Am Waldrand bleiben sie stehen. Nebelfetzen wirbeln an den Bäumen entlang. Lisa rutscht
auf den nassen Blättern. Es ist dunkel zwischen den Bäumen. Der Lichtstrahl von Vaters
Taschenlampe zittert. Dicke Tropfen platschen auf die Nasen. Sie kommen zu der
Lichtung. Lisa läuft zu ihrem Tannenbaum, Die Mutter steckt Kerzen an die Äste. Der
Vater hängt Nüsse an die mittleren Zweige. Lisa hängt Karotten an die unteren Zweige. Die
Mutter hängt Meisenringe an die obersten Zweige. Sie kramt in ihrem Korb. »Wo sind die
Streichhölzer?«
Der Großvater zieht sein Feuerzeug aus der Tasche. Er zündet die Kerzen an und die
Sternspucker. Dann halten sich alle an den Händen und gucken den Baum an. Oma fängt an
zu singen. Sie singen alle Weihnachtslieder, die sie kennen. Plötzlich lacht Lisa, »Schaut,
man sieht unsere Lieder!« Man sieht sie wirklich. Als weiße Fahnen und weiße Kringel in der
kalten Luft.
»Hasen!«, ruft Lisa, »Eichhörnchen! Meisen! Kommt, euer Christbaum ist fertig!« Kein Hase
kommt, kein Eichhörnchen und keine Meisen. Lisas Füße werden kalt und kälter. Auch die
Großmutter tritt schon von einem Fuß auf den anderen. Die Mutter sagt: »Ich glaube, die
kommen erst, wenn wir weg sind.« Lisa lehnt sich an die Mutter und blickt in die Höhe.
Zwischen den Wolken leuchtet ein Stern.
Am nächsten Tag gehen alle noch einmal in den Wald. Die ganze Lichtung ist voller Raureif,
jeder Grashalm, jede Distel. Auch der Christbaum ist voll Raureif. Alle Nüsse sind weg.
Eine einzige Karotte hängt noch da und die ist zur Hälfte angeknabbert. In die
Meisenringe sind große Löcher gepickt. Lisa umarmt einen nach dem anderen. »Na seht
ihr«, sagt sie.
Sophie Härtling (Hrsg): 24 Weihnachtsgeschichten zum Vorlesen.
Frankfurt am Main: Fischer Verlag 2006